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Redebeitrag

Redebeitrag beim Gedenken an Hanau

Am 19. Februar erinnerte der Migrant:innenrat Rostock mit einer Kundgebung an die Opfer des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau 2020. Ihr könnt hier unseren Redebeitrag lesen.

Wir gedenken heute neun Menschen, die am 19. Februar 2020 in Hanau bei einem rassistischen Terroranschlag ermordet wurden. 

Wir gedenken Mercedes Kierpacz, die am 19. Februar eine Pizza für ihre Kinder aus der Arena  Bar abholen wollte. Wir gedenken Hamza Kurtović, der grade seine Flugangst überwunden hatte und Reisen mit seinen Freunden plante. Wir gedenken Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin. Wir gedenken Said Nesar Hashemi. Said sollte im Jahr des Anschlags Trauzeuge  bei der Hochzeit seines besten Freundes sein. Wir gedenken Vili Viorel Păun. Er versuchte, den Täter mit seinem Auto zu stoppen und wurde dabei erschossen. Wir gedenken Fatih Saraçoğlu und Kaloyan Velkov. Wir gedenken Ferhat Unvar, dessen Mutter ein Jahr nach der Ermordung ihres Sohnes in Ferhats Namen eine antirassistische Bildungsinitiative gegründet hat.

Wir stehen heute auf dem Doberaner Platz, an der Stele „Empathie“. Sie erinnert an die Betroffenen des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen 1992. Ich spreche heute für das Bündnis „Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992“. Mit einem großen Netzwerk aus Vereinen, Gruppen und Initiativen werden wir in diesem Jahr an die tagelange rassistischen Gewalt vor knapp 30 Jahren erinnern.

Wir sprechen auch von einem Pogrom, weil uns dieser Begriff an die Hintergründe der rechten Gewalt erinnert. Sie geht nicht von „gelangweilten Jugendlichen“ aus, wie nach Lichtenhagen behauptet wurde. Und sie ist auch nicht das Werk von „verwirrten Einzeltätern“, wie nach Hanau zu lesen war. Zu rechter Gewalt gehört auch die Zustimmung und das Wegschauen der Mehrheitsbevölkerung und das rassistische Handeln der Behörden.

Auch dem Anschlag in Hanau ging die jahrelange rassistische Hetze gegen die vermeintliche „Clankriminalität“ und die damit in Verbindung gebrachten „Shishabars“ voraus, die zudem verstärkt Ziel rassistischer Polizeiarbeit wurden. Der Täter suchte sich diese Orte in Hanau bewusst aus. Und auch in Hanau sprechen die Angehörigen und Freund:innen der Ermordeten von einer „Kette des Versagens“ bei Polizei, Justiz und Behörden. Beispiele sind die mangelnden Maßnahmen gegen den Täter im Vorfeld oder der rassistische Umgang mit den Überlebenden und Angehörigen nach der Tat. Vili Viorel Păun konnte am Tatabend den Notruf mehrmals nicht erreichen und entschied sich schließlich, selbst einzugreifen und den Täter zu verfolgen.

Das Pogrom in Lichtenhagen 1992 und der rechtsterroristische Anschlag in Hanau 2020 zeigen uns die Verbindungen zwischen Rassismus als weitverbreiteter Einstellung, dem rassistischen Handeln von Behörden und rechter Gewalt. Lichtenhagen war und ist kein Einzelfall. Hanau war es auch nicht.   Die Stele „Empathie“, an der wir heute stehen, soll eine Umarmung symbolisieren. Dabei zeigt uns die Geschichte der Aufarbeitung der Gewalt in Lichtenhagen und Hanau, dass die Betroffenen, ihre Angehörigen und Freund:innen nach den Taten eben nicht umarmt wurden. 

Bis heute gab es für die im Sonnenblumenhaus Angegriffenen keine Entschädigung. Stattdessen die Abschiebung der betroffenen Geflüchteten und der jahrelang Kampf für das Bleiberecht der betroffenen Vietnames:innen. Trotz zweier Untersuchungsausschüsse sind bis heute viele Fragen um das Pogrom ungeklärt.
Auch in Hanau fordern die Betroffenen weiter neben der Erinnerung „Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen“. Sie kämpfen um Entschädigungen für die Angehörigen und fordern eine lückenlose Aufklärung der Tat. 

Das zeigt auch, dass Gedenken nicht bei dem Abwerfen von Blumenkränzen stehen bleiben darf. Ein stetiges und nachhaltiges Gedenken muss auch außerhalb von Jahrestagen stattfinden. Und muss sich mit den rassistischen Strukturen in der gegenwärtigen Gesellschaft auseinandersetzen. Denn, und das haben wir von den Aktivist:innen in Hanau gelernt: Erinnern heißt Verändern!

Für uns als Bündnis „Gedenken an das Pogrom“ stehen die Perspektiven der Betroffenen rechter Gewalt, ihrer Freund:innen und Angehörigen im Mittelpunkt. Sie kämpfen seit Jahrzehnten gegen rassistische Gesetze, schaffen Strukturen zum Selbstschutz und fordern Gedenken ein. Ihr Wissen ist es, ohne dass wir die Taten nicht verstehen können. Ihre Forderungen sind es, die im Zentrum unseres Gedenkens stehen.
Das können, wie in Hanau, die Forderung nach Aufklärung und politischen Konsequenzen sein. Oder wie in Rostock die Forderung nach einem angemessen Gedenken. Wir werden zum Gedenken an Mehmet Turgut, der 2004 in Rostock vom NSU ermordet wurde, das 30. Jahr des Gedenkens an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen beginnen. Die Familie Turgut fordert bis heute die Umbenennung des Neudierkower Wegs in Mehmet-Turgut-Weg zur Erinnerung an ihren ermordeten Sohn und Bruder. Bis heute wird diese Forderung durch die Ortsbeiräte von Dierkow und Toitenwinkel blockiert. Wir fordern die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung dazu auf, endlich die Forderung der Familie Turgut nach der Straßenumbennung umzusetzen!

Die Stele „Empathie“, welche an die Betroffenen des Pogroms in Lichtenhagen erinnert, wurde erst auf den Druck migrantischer Selbstorganisationen nachträglich hinzugefügt. Das ursprüngliche Gedenkkonzept sah keine Stele vor, die explizit den im Sonnenblumenhaus Angegriffenen gewidmet sein sollte. Auch in Hanau werden die Angehörigen der Ermordeten, obwohl sie formal in die Planungen um das Denkmal für den Anschlag in der Stadt einbezogen werden, nicht wirklich gehört. Entscheiden werden letztlich die politischen Vertreter:innen der Stadt. Die Marginalisierung der Perspektiven und Forderungen von Betroffenen rechter Gewalt hat Tradition. Das verdeutlich uns, dass wir das Gedenken an rechte und rassistische Gewalt selbst in die Hand nehmen müssen. Seite an Seite, solidarisch mit den Betroffenen. 

So, wie die Initiative 19. Februar in Hanau schreibt: „Wir stehen zusammen und kämpfen gemeinsam.  Gegen die Angst. Für das Leben. Erinnern heißt verändern!“