In dem Format „Die Narbe“ des NDR ist gestern eine Folge zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992 erschienen. In diesem berichtet auch einer der im Sonnenblumenhaus angegriffenen Vietnames:innen, Hung Qouc Nguyen, erstmals über sein Erleben des Pogroms und der Selbstrettung aus dem brennenden Haus am 24. August 1992.
Perspektiven der Betroffenen
Der Film ist immer dann am stärksten, wenn selbst von Rassismus Betroffene wie er zu Wort kommen. Seyhmus Atay-Lichtermann, Vorsitzender des Rostocker Migrantenrats, berichtet im Nachgespräch über die Alltäglichkeit der rassistischen Gewalt in Lichtenhagen nach dem Pogrom:
„Also die Luft von 1992 war definitiv noch da. Extrem zu spüren. Das war das Ende der Baselballschlägerjahre, aber die habe ich ganz bitter am eigenen Leib tatsächlich miterlebt, ja. […] Es gab keinen Tag, wo ich nicht angegriffen wurde. […] Ab um acht, wenn es dunkel wurde, oder neunzehn Uhr, war es nicht mehr möglich, mit dem Bus zu fahren in Rostock.“
Auch Mai-Phuong Kollath, die als Vertragsarbeiter:in selbst jahrelang im Sonnenblumenhaus gelebt hatte, betont im Film, dass Lichtenhagen kein Einzelfall war:
„Das ist nicht irgendwie aus dem Himmel gefallen. Das ist wirklich eine Kontinuität. Bis heute.“
Trotz dieser deutlichen Positionierungen und obwohl Moderation Anja Reschke mehrfach betont, wie wichtig die Stimmen von Betroffenen seien und das Rassismus nachhaltig bekämpft werden müsse, ist davon in der Dokumentation wenig zu spüren.
Lichtenhagen 1992 – Ein Pogrom
Obwohl Ausschnitte einer Podiumsdiskussion in Rostock zu sehen sind, bei der Mai-Phuong Kollath die Benennung der rassistischen Gewalt im August 1992 als „Pogrom“ klar eingefordert hat, wird diese Bezeichnung im Film kein einziges mal verwendet. Stattdessen wird verharmlosend von „Krawallen“ gesprochen.
Auch die mehrmals angesprochenen Kontinuitäten der rassistischen Gewalt finden sich in der Darstellung des Pogroms an keiner Stelle wieder. Egal ob Rassismus gegen Vertragsarbeiter:innen, die rechte Szene in der DDR oder die fast alltäglichen Angriffe auf Geflüchtete in Mecklenburg-Vorpommern Anfang der 1990er Jahre – all dies wird mit keinem Wort erwähnt.
Völlig außen vorgelassen wird außerdem die staatliche Seite des Rassismus: der unmenschliche Umgang mit den 1992 in Lichtenhagen ankommenden Geflüchteten, deren Abschiebung nach dem Pogrom oder der jahrelang Kampf der vietnamesischen Betroffenen des Pogroms für ihr Bleiberecht.
Fazit
Die Folge von „Die Narbe“ zeigt, wie wichtig die Stimmen der von Rassismus und rechter Gewalt Betroffenen, ihr Wissen und ihre Erzählungen sind. Gleichzeitig macht der Film leider auch deutlich, wie wenig selbstverständlich die in unserem Positionspapier formulierten Punkt in der Erinnerung an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen sind.
Die Angriffe in Rostock-Lichtenhagen waren ein Pogrom. Lichtenhagen war und ist kein Einzelfall. Rechte Gewalt und institutioneller Rassismus stehen in Verbindung.
Eine Antwort auf „Kommentar zur NDR Sendung „Die Narbe““
[…] Auf der Ebene der kulturellen Verarbeitung fällt ebenfalls im Vergleich zur Themensetzung des NSU-Komplexes etwa im Bereich „Theater“ ein deutlicher Unterschied auf,14 obwohl beide Themen miteinander verbunden sind und trotz wichtiger Unterschiede in ihrer gesellschaftlichen und zeithistorischen Bedeutung vergleichbar erscheinen. Zum Thema Rostock-Lichtenhagen sind bisher lediglich drei Stücke in kleinen Theaterproduktionen entstanden: Davon nimmt nur das Stück „Sonnenblumenhaus“ (2014) von Dan Thy Nguyen und Iraklis Panagiotopoulos die Perspektive der angegriffenen vietnamesischen Community ein.15 Die beiden Stücke „Kein schöner Land“ (2000) der freien Gruppe „Neue Tendenz Theater“ aus NRW und „Bis zum Anschlag“ (2011) von Christof Lange vom Freien Theater Jugend Rostock fokussieren sich dagegen auf Weiße Täter.16 Diese Perspektive nimmt auch der bisher einzige Spielfilm zum Thema ein. In Burhan Qurbanis Kinostreifen „Wir sind jung. Wir sind stark“ (2015) stehen erneut eine Weiße Jugendgruppe und die Tätersicht im Zentrum.17 Im Unterschied dazu sind die Dokumentarfilme weniger bekannt, aber thematisch diverser aufgestellt, da im Laufe der Zeit neue Fragen etwa zur Integrations- und Erinnerungsarbeit dazu kamen. Neben der „Kennzeichen D“-Reportage des ZDF-Teams ist insbesondere der britische Dokumentarfilm „The Truth Lies in Rostock“ (1993) von Mark Saunders und Siobhan Cleary, die bei ihrer Arbeit von der linken Rostocker Initiative JAKO videocoop unterstützt wurden, als zeithistorisches Dokument und als Archivmaterial von besonderer Bedeutung. In Interviews mit Roma-Geflüchteten und vietnamesischen Arbeiter:innen entstanden Bilder und Narrative, die den Angegriffenen bis heute eine Stimme geben und ihre Sicht der Geschichte ansatzweise repräsentieren. Anlässlich des 30. Jahrestags entstand in der Reihe „Die Narbe“ die bisher letzte Fernsehproduktion „Der Anschlag in Rostock-Lichtenhagen“ (NDR 2022). Trotz des Postulats Rassismus zu benennen und Betroffenenperspektiven Raum einzuräumen, gelingt das nicht wirklich. So wurde Mai-Phuong Kollaths Plädoyer die rassistische Gewalt im August 1992 als „Pogrom“ zu bezeichnen aus der dokumentierten Diskussion rausgeschnitten und stattdessen am Begriff „Krawalle“ festgehalten.18 […]