Ein Community-Gespräch mit Mai-Phuong Kollath, Angelika Bach Ngoc Nguyen, Thao Nguyen, Toản Quốc Nguyễn, Trần Thị Thu Trang und Kien Nghi Ha
Dieser Text ist zuerst in Kien Nghi Ha (Hg.) (2021): Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond. Berlin: Verlag Assoziation A, S. 173–183 erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung für die online Veröffentlichung.
Dieser Beitrag ist online zuerst auf dem Blog von korientation erschienen: korientation.de
Zwischen dem 22. und 26. August 1992 griffen bis zu Tausend Rechtsextremist_innen zunächst die Zentrale Aufnahmestelle (ZAST) für Asylsuchende an, in der sich vor allem geflüchtete Rom_nja-Familien aufhielten. Nach der Räumung der ZAST verlagerte sich das Pogrom auf ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter_innen, das am Abend des 24. August in Brand gesetzt wurde. Die etwa 115 Vietnames_innen, darunter Kleinkinder und Hochschwangere, konnten sich zusammen mit einem ZDF-Fernsehteam, linken Aktivist_innen des Autonomen Jugendzentrums und dem Rostocker Ausländerbeauftragen mit knapper Not vor dem Tod durch Rauchvergiftung in ein Nachbargebäude retten. Zum Höhepunkt des Pogroms herrschte eine volksfestartige Stimmung mit rasch aufgebauten Bier- und Imbissbuden. Bis zu 3.000 Schaulustige bejubelten die rassistische Gewalt und feuerten die bundesweit angereisten Täter_innen an. Während die Angegriffenen in der Folgezeit fast alle abgeschoben wurden und die ZAST dauerhaft geschlossen blieb, verlief die politische Aufarbeitung und strafrechtliche Verfolgung sehr schleppend. Da während des Pogroms nur wenige beweissichernde Festnahmen erfolgten, wurden am Ende nur 40 Täter_innen meist zu geringen Geld- und Bewährungsstrafen verurteilt. Am 6. Dezember 1992 beschloss der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von CDU, CSU, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl stark einzuschränken.
Am 19. August 2012 fand im Rahmen des Festivals gegen Rassismus Berlin auf dem Kreuzberger Blücherplatz das Gespräch »Fire and Forget? Deutsch-vietnamesische Perspektiven 20 Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen« mit Mai-Phuong Kollath, Anh Ngo, Angelika Bach Ngoc Nguyen, Toản Quốc Nguyễn und Trần Thị Thu Trang statt, das von Kien Nghi Ha organisiert und moderiert wurde. Es war höchstwahrscheinlich die erste öffentliche Diskussion zur Bedeutung und den Folgen von Rostock-Lichtenhagen mit ausschließlich vietnamesisch-deutschen Perspektiven. Im Gegensatz zu mehrheitsdeutschen Formaten ohne oder nur mit Beteiligung eines einzigen »Betroffenen«, die/der dann als vereinzelte Stimme im vermeintlichen Expertenkreis kaum Sprechzeit erhält und oft nur Alibifunktionen erfüllt, wurde hier der Fokus auf die Vielfalt der Sichtweisen innerhalb der Community gelegt. Im Gespräch wurden die unterschiedlichen Zugänge zu dem Thema innerhalb der vietnamesischen Diaspora in der BRD als zentrale Fragestellung aufgegriffen. Alle Teilnehmenden hatten danach den Eindruck, dass in dieser Runde erstmalig ein wichtiger exemplarischer Austausch und eine grundlegende Verständigung quer zu den Grenzsetzungen innerhalb der Community initiiert worden war. Dabei kamen auch die Differenzen zwischen den Generationen in Ost- und Westdeutschland mit ihren unterschiedlichen Migrationsgeschichten und Deutschlanderfahrungen zur Sprache, ebenso wie Gegensätze, die aus dem Vietnamkrieg bzw. dem US-Krieg in Vietnam herrühren.
Neben dem erinnerungspolitischen Umgang mit dem brennenden Sonnenblumenhaus zum Höhepunkt des Pogroms, kann aus dem Titel auch eine Assoziation mit dem Vietnamkrieg herausgelesen werden: Die Redewendung »fire and forget« stammt aus der Pilotensprache der US-Luftwaffe und bezeichnet selbst ihr Ziel suchende Lenkflugwaffen. Die brennenden Wälder, Dörfer, Tiere und Menschen nach massiven Flächenbombardements mit Napalm stehen auch heute noch ikonografisch für den imperialen US-Krieg in Vietnam, so dass hier sprachlich, gedanklich wie bildlich eine Verbindung zwischen Neo-Kolonialismus und Rassismus gezogen werden kann.
Da die Erstausgabe von Asiatische Deutsche damals bereits im Erscheinen war und keine Aufzeichnung vorlag, haben wir das Gespräch in der Coronazeit als virtuelle E‑Mail-Kommunikation neu inszeniert. Anh Ngo konnte aufgrund der kurzfristigen Anfrage leider nicht teilnehmen.
Editorische Notiz von Kien Nghi Ha
Nghi: Wann und in welchem Zusammenhang hast du zum ersten Mal von Rostock-Lichtenhagen gehört?
Mai-Phuong: 1981 kam ich aus Vietnam nach Rostock und arbeitete als Küchenhilfe am Hafen. Ich wohnte zunächst mit Landsleuten zehn Jahre lang in der elften Etage des Wohnheims »Sonnenblumenhaus«. Als es 1992 zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen kam, lebte ich im selben Stadtteil in einer Wohnung gegenüber dem Wohnheim, als dort Asylbewerber_innen und meine dort lebenden Landsleute über mehrere Tage und Nächte von einem unkontrollierten Mob angegriffen wurden und sich heimlich in Sicherheit bringen mussten.
August 1992: Das sind die schwärzesten Tage in meinem Leben. Damals stand ich gegenüber dem Sonnenblumenhaus und sah dicke Rauchwolken aufsteigen. Überall war Polizei, oben kreisten Hubschrauber, schwarzer Qualm. Ich musste in diesen Nächten an meine Kindheit denken. Es sah aus wie damals im Krieg in Vietnam. Einige Tage später ging ich ins Sonnenblumenhaus. Ich wollte dort nach meinen Landsleuten sehen, aber das Gebäude war komplett leer. Alle waren bereits weg. Ich sagte mir damals: »Du bist hier jetzt ganz alleine. Wenn etwas passiert, wird niemand auf deiner Seite stehen. Wo willst du hin, wenn sie dich auch angreifen. Du musst jetzt lernen, für dich selbst zu sprechen.«
Angelika: Ich habe es in jenen Tagen im August 1992 über die Nachrichten vor allem per TV erfahren. Ich war bei allem, was mit vietnamesischen Menschen in Deutschland zusammenhing, besonders sensibel, da mein Vater Vietnamese ist. Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, den entfesselten rechten Mob da auf dem Rasen vor dem Wohnheim zu sehen, die Brandsätze, die Feuer, das beifällige Johlen der Menge – das war die Erfüllung meiner schlimmsten Alpträume aus der Kindheit, weil ich Rassismus wegen meines Aussehens und Namens am eigenen Leib erfahren habe. Ich war wütend und fassungslos, dass die Polizei praktisch tatenlos zusah und sogar selbst vor der Menge zurückwich. Ich hatte Angst um die Menschen da drinnen.
Toản: Ich erinnere mich wie wir als Familie eines Abends Anfang der 1990er Jahre die Nachrichten anschauten und die Aufnahmen über Rostock-Lichtenhagen über den Fernseher in unser Wohnzimmer flimmerte. Es war schlicht und ergreifend ein Schock. Dieser und weitere Anschläge zeigten die hässlichste Rassismus-Fratze Deutschlands. Etwas, was wir immer gespürt und in anderer Form erfahren haben, aber ich damals nicht so klar benennen konnte.
Trang: Rostock-Lichtenhagen fand 2012, also zum 20. Jahrestag des Pogroms, Eingang in mein Bewusstsein. Ich war 20 Jahre alt geworden und hörte von Nghi das erste Mal davon. Nghi lud mich als Teilnehmerin zu dem Panel auf dem Berliner Festival gegen Rassismus ein. Als Panelteilnehmende saßen wir auf Stühlen in einem Zirkuszelt, es war sonnig und heiß. Meine Eltern und Bekannte saßen auf Bänken und erlebten mich erstmals in der Öffentlichkeit sprechen. Im Rückblick empfinde ich das als einen der wichtigsten Anlässe, um mit meinen Eltern und ihren Freundinnen über deren Rassismuserfahrungen in Deutschland zu reden.
Thao: Ich selbst habe keine direkten Erinnerungen an Rostock-Lichtenhagen, weil ich erst danach geboren worden bin. Ich gehöre zur zweiten Generation Viet-Deutscher. Meine Mutter ist 1987 als Vertragsarbeiterin nach Rostock geschickt worden.
Tatsächlich habe ich erst mit 15 Jahren zum ersten Mal von Rostock-Lichtenhagen erfahren. Nicht wie man zuerst denken mag von meinen vietnamesischen Eltern selbst, sondern von einem Weißen deutschen Freund. Dieser hat mir alte Videos der Berichterstattung von den Geschehnissen auf YouTube gezeigt. Die Bilder haben mich sehr aufgewühlt und traurig und wütend zurückgelassen. Das war das erste Mal, als mir bewusst geworden ist, dass auch Vietnames_innen von rechter Gewalt betroffen waren und sind. Viele Fragen gingen mir durch den Kopf: War meine Mutter selbst dort im Sonnenblumenhaus? Warum hat meine Mutter mir nie von ihrer Zeit in Rostock erzählt? Hat sie selbst Rassismus erfahren? Bis heute sind viele dieser Fragen noch ungeklärt für mich. Auf Nachfrage hat meine Mutter mir nur erzählt, dass sie selbst nicht im Sonnenblumenhaus untergekommen war, aber zu der Zeit in Rostock gelebt und von den Geschehnissen dort mitbekommen hat. Über vieles in Rostock-Lichtenhagen und ihren rassistischen Ausgrenzungserfahrungen in den 1990er Jahren schweigt sie jedoch bis heute. Die Vorfälle sind Teil einer verdrängten traumatischen Erinnerung meiner Mutter.
Nghi: Welche Bedeutung hat Rostock-Lichtenhagen für dich und hat sich diese Bedeutung im Laufe der Zeit verändert?
Angelika: Rostock-Lichtenhagen nahm ich damals als sehr persönliche Attacke wahr, denn die rassistische Fratze meiner Weißen ostdeutschen Landsleute kannte ich nur allzu gut. Diese ausschließliche Fokussierung auf eine Ost-Interpretation hat sich inzwischen bei mir gewandelt – ich sehe das Pogrom von damals als Beispiel von ganz gewöhnlichem gesamtdeutschem Rassismus, der hüben wie drüben von der Stammkneipe bis in höchste politische Kreise reicht. Das zeigte sich in der anschließenden Rezeption des Pogroms in Medien und Politik: Niemanden interessierte die Opferperspektive, kaum jemanden interessierte die juristische Aufklärung des Verbrechens. Im Gegenteil – es wurde in dessen Folge das Asylrecht eingeschränkt –, was in die Bevölkerung kommuniziert wurde, war, dass das Pogrom sogar eine gewisse »Berechtigung« gehabt habe. Stichworte: Asylmissbrauch, Wirtschaftsflüchtlinge und »Das Boot ist voll«-Mentalität. Die nachfolgenden Anschläge von Mölln und Solingen zeugen von dieser Ermutigung rechtsextremer Gewalttäter. Damals fand ich das Pogrom von Rostock einzigartig – heute steht es für mich in einer Reihe mit dem Pogrom gegen mosambikanische und vietnamesische Vertragsarbeiter_innen und Geflüchtete ein Jahr zuvor in Hoyerswerda, wo ebenfalls zwei Wohnheime von Nazis und Anwohner_innen angegriffen wurden, den Nazi-Morden der frühen 1990er, dem NSU-Terror, dem Mord an Marwa El-Sherbini und an Walter Lübcke, den Anschlägen in Halle und Hanau. Das sind 30 Jahre kontinuierlicher rechtsextremer Gewalt.
Erst seit Kurzem – seit Frühjahr 2020 – findet der Bundesinnenminister, dass der Rechtsextremismus eine ernsthafte Bedrohung für den Rechtsstaat darstellt. Immerhin. Auch hält der Innenminister von Hessen neuerdings ein rechtsextremes Netzwerk in der deutschen Polizei für möglich. Das wären dann Rechtsextremisten mit Kampfausbildung, Zugang zu Waffen und empfindlichen Daten!
Thao: Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen symbolisieren für mich nicht nur die konstante Gefahr rassistischer Gewalt, sondern vor allem auch das Versagen von Staat und Polizei. Es hat mir die Unfähigkeit des Staatsapparats vorgeführt, Menschen, die von Rassismus betroffen sind, ernsthaft zu schützen. Die Verharmlosung und Vertuschung rechter Gewalt ging und geht auch nach Rostock-Lichtenhagen weiter, wie sich das zum Beispiel bei den NSU-Morden gezeigt hat. Viele Menschen wissen heute gar nicht, was in Rostock-Lichtenhagen passiert ist, wenn sie nicht wie in meinem Fall aktiv danach recherchiert haben. Es wird nicht als Teil deutscher Geschichte verhandelt, weil über rassistische Anschläge in der Nachkriegszeit gesamtgesellschaftlich geschwiegen wird.
Trang: Als Angehörige der sogenannten zweiten Generation in der vietnamesischen Diaspora habe ich nur einen historischen Zugang zu Rostock-Lichtenhagen – ich kam im selben Jahr zur Welt. Der Austausch über dieses lang vergangene Ereignis löste unterschiedliche Gefühle in mir aus. Ich fühlte Wut, Trauer aber auch Enttäuschung über die damaligen politischen und zivilgesellschaftlichen Reaktionen auf die Anschläge der Postwendejahre.
In der Enttäuschung liegt das Potential der Emanzipation von einer Täuschung, das Lossagen von einem trügerischen Bild. Bis dahin hatte ich durch meine gymnasiale Bildung noch die Idee von humanistischen Grundwerten in der Genese der Bundesrepublik Deutschland vermittelt bekommen. Der Nationalsozialismus wurde als unverzeihlicher historischer Fehltritt dieser Nation unterrichtet, über den bis auf ein paar Narren jedoch alle hinweggekommen seien. Dann kam die deutsche Teilung und nach jahrzehntelanger Trennung der Mauerfall. Die vernunftbasierte Demokratie siegte über den Totalitarismus. So erinnere ich mich an meine Schulbildung.
Rostock-Lichtenhagen lehrte mich, dass von dem Punkt aus, an dem ich stand und nun stehe, kein Bild von Deutschland ohne die Kulisse jubelnder Menschen vor flammenden Häusern mehr zu zeichnen ist. Kein Bild vom wiedervereinigten Deutschland ohne den ikonischen Anblick des »hässlichen Deutschen«, dessen Jogginghose mit einem dunklen Urinfleck versehen ist, den Arm zum Hitlergruß erhoben, während sein Kollege neben ihm mit verschränkten Armen lacht. Sein Bild sollte Inbegriff des abgehängten, vermeintlich reaktionären Ostens werden und ermöglichte es, diskursiv den Rechtsruck aus der Mitte der Gesellschaft an ihre Ränder zu verlagern. Die Etablierung rechter Parteien in den Landesparlamenten, die Verfehlungen des Verfassungsschutzes sowie der Polizei konnten somit aus dem Fokus gerückt werden.
Toản: Mir sitzt der Schrecken über Rostock-Lichtenhagen immer noch im Nacken. Ich bin fassungslos, in welchem gravierenden Maße politische Entscheidungsträger_innen und deutsche Sicherheitsbehörden versagt haben. Dies bildet bis heute eine alarmierende Kontinuität. Es ist nicht verwunderlich, dass Anschläge (siehe etwa Halle 2019, Hanau 2020) nicht aufhören. Denn die Maßnahmen, die ergriffen werden, sind ungenügend, sogar fahrlässig. Ich weiß: Meine Kinder sind weiterhin nicht sicher in Deutschland.
Es ist unglaublich, dass viele der betroffenen Vietnames_innen später abgeschoben worden sind. Sie wurden traumatisiert – und erhielten keine Form von Entschädigung, nicht mal für ihr zerstörtes oder verbranntes Hab und Gut. Das ist ein Muster des Krieges, keines des Friedens.
Rostock-Lichtenhagen ist nicht nur deswegen ein Lehrstück wie struktureller Rassismus in Deutschland funktioniert, sondern auch wie Entmenschlichung erfolgt – während und nach dem Anschlag. Ich verstehe nicht, wieso Betroffenen von rassistischen Anschlägen wie in Rostock-Lichtenhagen keine Behandlungen im Sinne der Aufarbeitung und Heilung zustehen. Dies wäre das Mindestmaß an erforderlicher Humanität und Solidarität.
Rostock-Lichtenhagen entspricht auch dem üblichen Muster wie struktureller Rassismus geduldet und instrumentalisiert wird. Ich bin müde, die immer gleichen verbalen Brandsätze und Schlagzeilen in meinem Alltag zu lesen. Sie sind Gift für eine freiheitliche und gleichberechtige Gesellschaft, deren Bestreben es ist, soziale Gerechtigkeit herzustellen und Diversität wertzuschätzen.
Wir alle müssen Verantwortung übernehmen. Ich möchte, dass meine Kinder und ihre Kinder eine Zeit erleben, in der es keine rassistischen Anschläge mehr gibt. Dies setzt voraus, dass wir als Gesellschaft daraus endlich umfänglich lernen – und gesellschaftliche Standards der Antidiskriminierung leben.
Mai-Phuong: Die Vorgänge von Rostock-Lichtenhagen führten dazu, dass ich mich bis heute für eine stärkere Integration und Teilhabe der Vietnames_innen am öffentlichen Leben einsetzte. Denn ich sprach nach den rassistischen Ausschreitungen mit vielen Landleuten, die im Sonnenblumenhaus eingeschlossen waren. Dabei stellte ich immer wieder fest, dass sich bei ihnen die schrecklichen Erlebnisse tief eingebrannt haben. Viele sind auch bis heute nicht bereit, über die Ereignisse zu sprechen. Sie wollen nicht mehr an das tragische Geschehen erinnert werden, und für die meisten von ihnen ist es sehr unangenehm, als Vietnamese/in im Zusammenhang mit dem Geschehen wieder im öffentlichen Fokus zu stehen.
Heute arbeite ich als interkulturelle Beraterin und Trainerin in Berlin und als Schauspielerin in politischen Theaterstücken wie »Danke Deutschland« (2019) von Sanja Mitrović und »Atlas des Kommunismus« (2016) von Lola Arias auf Theaterbühnen. Gerade wir als politisch motivierte Kulturschaffende haben einen großen Einfluss auf die Auseinandersetzung mit der Vergangenheitsaufarbeitung. Für mich bedeutet Theater eine kollektive Heilung. Dabei geht es um die Verknüpfung von Aktivismus und Persönlichem, der Balance zwischen Privatperson und öffentlicher Figur und wie wir uns durch Theater gegenseitig heilen können. Ich wollte einfach meine Erfahrungen teilen. Es war ja auch eine Gelegenheit, die vietnamesische Community in den Fokus zu rücken und die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen noch einmal aufzuarbeiten. Ich habe meine Rassismus-Erfahrungen damals immer unterdrückt und ignoriert. Aber wenn die Schauspieler_innen heute als Neonazis neben mir auf der Bühne stehen, durchlebe ich diese traumatischen Situationen noch einmal. Ich habe während der Proben viel geweint. Und auch in den 40 Aufführungen. Aber seit dem Theaterstück fühle ich mich viel stärker als zuvor.
Nghi: Wie können wir als Community, wie als deutsche Gesellschaft, des größten Pogroms in Nachkriegsdeutschland angemessen gedenken? Welche Ideen und Forderungen für eine einbeziehende und solidarische Gedenkpolitik gibt es angesichts des nahenden 30. Jahrestags?
Trang: Im bisherigen medialen Gedenken an Rostock-Lichtenhagen ging es stets um das reflexive Verhältnis der Weißen Deutschen zu dem unmöglichen Umstand, dass rechte Ideologien nach dem Nationalsozialismus wieder aufzuflammen schienen. Als Community müssen wir erst einmal die Arbeit verrichten, uns als miteinander Verbundene anzuerkennen.
Ich sprach in den vergangenen Jahren oft mit meinen Eltern, Bekannten und Freund_innen über die Zeit vor und nach dem Mauerfall, Rostock-Lichtenhagen. Es gab Streit um das richtige Erinnern, die Dominanz der Deutungshoheit von uns Nachkommen, welche dem Schweigen und den Bewertungen der älteren Generationen nicht immer folgen konnten und wollten. Vielleicht sind wir noch in dem Prozess, uns gegenseitig das Zuhören beizubringen und Zwischenstände in der Bewertung unserer unmittelbaren Vergangenheit zu formulieren. Wir brauchen dafür neben konkret historischer Aufarbeitung auch kulturelle Produktionen, die uns aufzeigen, dass keine Erzählung rein und authentisch sein kann. Wir brauchen Erzählungen, um das Gesagte und Ungesagte zu arrangieren und besprechbar zu machen.
Angelika: Zwei Dinge halte ich mit Blick auf Rostock Lichtenhagen für wichtig: Erstens dieses herausragende Ereignis nicht als singulären Moment der rechten Gewalt in Nachkriegsdeutschland zu sehen, sondern die Kontinuität aufzeigen, in der sich dieses Pogrom befindet und logisch herleiten lässt. Das Pogrom fiel nicht vom Himmel. Rostock steht, wie der Schauspieler und Regisseur Dan Thy Nguyen sagte, »als Höhepunkt scheinbar einsam, aber in Wirklichkeit nur in einer Reihe von Ereignissen, die vergessen sind, weil nicht gleich ein TV-Team dabei war«. Rostock-Lichtenhagen ist auch nicht zu trennen von rechtsextremen Gewalttaten in Ost und West vor dem Mauerfall.
Zweitens muss dieses Pogrom endlich aus der Perspektive der Überlebenden selbst erzählt und bewertet werden, ein vietnamesisches Narrativ muss her, dokumentarisch und künstlerisch. Das kann neue Informationen liefern über das, was damals geschah, über Gefühle in einem brennenden Haus, über die Kunst des Überlebens, über Kompetenzen von Weltwander_innen. Nicht nur im Zusammenhang mit Rostock, sondern mit allem, was viet-deutsches Leben betrifft, aus unseren Perspektiven, denn wir haben ja untereinander auch verschiedene Erfahrungen. Davon könnte unsere ganze Gesellschaft profitieren.
Mai-Phuong: In meinem Buchbeitrag »Fehlanzeige Aufarbeitung ›Rostock-Lichtenhagen‹: Warum die Mehrheitsgesellschaft hier eine Aufgabe hat« (2015)1 halte ich das Erinnern und Mahnen für wichtig. Die Stadt Rostock muss diese Geschehnisse langfristig aufarbeiten und dauerhaft mit ihrer Verantwortung leben. Rostock-Lichtenhagen ist auch ein Teil der Geschichte Deutschlands.
Egal ob wir hier geboren wurden oder die deutsche Staatsangehörigkeit haben: Wer so aussieht wie wir oder wessen Eltern eine Migrationsgeschichte mitbringen, trägt die eigene »Herkunft« offen vor sich her. Wir, die Menschen mit Migrationsgeschichte, können diese Verständigungsprozesse weitaus mehr als bisher mitgestalten. Wir können mitbestimmen, was »deutsch« ist. Und ich wünsche mir, durch meine Trainings, meine therapeutische Beratertätigkeit und die Theaterarbeit Migrant_innen zu ermuntern, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, ihre Stimme zu erheben und ihre Rechte einzufordern. Wir müssen endlich lernen, aus der Sprachlosigkeit herauszutreten und für uns selbst zu sprechen. Wir leben hier und gestalten die Gesellschaft mit. Unsere Leistungen für dieses Land müssen sichtbar werden – und wir müssen gehört werden!
Toản: Wir brauchen unbedingt mehr Gewicht in unseren Stimmen und Perspektiven auf Rostock-Lichtenhagen. Das geht nicht ohne einen breit angelegten Schulterschluss von migrantisch-diasporischen und BPoC Initiativen, Organisationen und Communities.
Ich sehe anlässlich des nahenden Gedenktages die asiatisch-deutschen (Migrant_innen)Organisationen maßgeblich verantwortlich für inhaltliche Impulse einer empowernden Gedenkpolitik. Dem geht voraus, dass tragfähige Bündnisse der Solidarität innerhalb der vietnamesischen und asiatisch-deutschen Communities bestehen. Wir haben unsere Geschichten über Rostock-Lichtenhagen zu erzählen – so wie es etwa Dan Thy Nguyen vorbildlich gezeigt hat.
Zum Wohl von uns allen müssen wir als BPoC auf den systematischen Abbau von strukturellem Rassismus und Diskriminierung in allen Bereichen der Gesellschaft massiv hinarbeiten. Das Bleiberecht für Betroffene rassistischer Anschläge und weitere Entschädigungs- wie Kompensationsleistungen sind nicht umgesetzt. Und auch Reparationsleistungen für die damals betroffenen Vietnames_innen müssen nach wie vor in die Wege geleitet werden. Sie können das Erlebte mit Sicherheit nicht vergessen, und wir alle dürfen Rostock Lichtenhagen nicht vergessen.
Die Weiße Mehrheitsbevölkerung hat auch ihre vielfältigen Aufgaben zu erfüllen. Sie haben in erster Linie zu verstehen, dass Powersharing die Schwester des Empowerments ist und Gedenken einen umfänglichen Lern- und Veränderungsprozess voraussetzt. Dieser zwingt raus aus der bestehenden Komfortzone und führt kurz- oder langfristig als Verbündete in eine gelebte Gesellschaftsform, in der wir alle uns sicherer fühlen und entfalten können.
Thao: Ich finde es bemerkenswert, wie sich die öffentliche Wahrnehmung von Viet-Deutschen in den 1990ern Jahren bis heute verschoben hat. Sie gelten heute als politisch passive und »unsichtbare« Minderheit oder werden oft als bildungsaffine »Vorzeigemigranten« oder Model Minority betrachtet. Sie werden als Beispiel gelungener Integration angepriesen. Dieses Bild war nicht immer so besetzt. Kurz nach der deutschen Wiedervereinigung war die öffentliche Meinung vor allem von der illegalisierten vietnamesischen »Zigarettenmafia«, den nicht willkommenen »Ausländern«, geprägt. Der Stimmungsdiskurs gegenüber Viet-Deutschen hat sich mit der Zeit also sehr gewandelt.
Für eine solidarische Erinnerungspolitik gehört es für mich dazu, diesen gewandelten Stimmungsdiskurs zu entlarven und uns heute nicht als die »besseren« Migrant_innen gegen vermeintlich »schlechte« Migrant_innen instrumentalisieren zu lassen. Uns sollte bewusst sein, dass die Rassifizierung von Viet-Deutschen, je nach Diskurs, immer umschwenken kann und daher sehr brüchig ist.
Es ist auch wichtig, Rostock-Lichtenhagen nicht als Einzeltat, sondern sowohl im Kontext der Migrationsdebatten in den 1990er Jahren als auch eines rassistischen Kontinuums zu verstehen. Es reicht nicht aus, nur einmal im Jahr daran medienwirksam zu gedenken. Die Fragen, die ich mir oft stelle, sind: Für wen wird hier erinnert? Ist es für die viet-deutschen Communities oder nur ein Gedenktheater für Weiße Deutsche? Welche Konsequenzen werden gezogen, damit sich Rostock-Lichtenhagen nicht wiederholt? Und wie hilft das Gedenken tatsächlich Betroffenen?
Konsequent wäre auch eine systematische Analyse der rassistischen Struktur in Deutschland auf politischer Ebene. Wir dürfen nicht vergessen, dass Asylheime und migrantisch besetzte Orte heute immer noch brennen. Solche Anschläge gehören nicht der Vergangenheit an. Wir brauchen eine lückenlose und kontinuierliche Aufklärung rechter Gewalt sowie effektive Maßnahmen damit es gar nicht zu Anschlägen kommt.
Innerhalb der vietnamesischen Communities in Deutschland fehlt meines Erachtens noch ein tiefergehender kollektiver intergenerationaler Austausch. Mein Eindruck ist, dass viele aus der zweiten Generation keinen Zugang zum Community-Wissen ihrer Elterngeneration haben. Es fühlt sich wie ein langer Prozess der Spurensuche der eigenen Identität und Geschichte an. Wir fangen langsam an, unseren Eltern Fragen zu stellen, mit ihnen ihren und unseren Schmerz aufzuarbeiten, doch vieles bleibt noch unaufgearbeitet.
1 In: Schrader, Irmhild/Joskowski, Anna/Diaby, Karamba/Griese, Hartmut M. (Hg.). Vielheit und Einheit im neuen Deutschland. Leerstellen in Migrationsforschung und Erinnerungspolitik. Frankfurt a.M., S. 111–122.
Kien Nghi Ha, promovierter Kultur- und Politikwissenschaftler, forscht zu Asian German Studies an der Universität Tübingen und arbeitet als Publizist, Kurator und Dozent in Berlin. Er hat zahlreiche Bücher zu postkolonialer Kritik, Rassismus, Migration und Asian Diasporic Studies veröffentlicht u.a. Ethnizität und Migration Reloaded. Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs (1999; 2004), re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland (Co-Hg., 2007; 2015; 2021). Seine Monografie Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen »Rassenbastarde« (2010; 2015) wurde mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2011 ausgezeichnet.
Mai-Phuong Kollath, geboren 1963 in Hanoi (Vietnam), kam mit 18 Jahren als Vertragsarbeiterin in die ehemalige DDR nach Rostock. Die Diplom-Pädagogin leitete 16 Jahre hauptamtlich die Migrationsberatungsstelle in Rostock und leistete aktive Vorstandsarbeit bei dem deutsch-vietnamesischen Verein Diên Hồng. Seit Jahren engagiert sie sich ehrenamtlich in verschiedenen bundesweiten Fachgremien der Migrations- und Integrationspolitik. Sie arbeitet heute in Berlin als Interkulturelle Beraterin und Trainerin.
Angelika Bach Ngoc Nguyen, geboren 1961, wuchs als Kind deutsch-vietnamesischer Eltern in Ostberlin auf, studierte Filmwissenschaft in Babelsberg, drehte 1991 den Dokumentarfilm Bruderland ist abgebrannt, schrieb den Essay »Mutter wie weit ist Vietnam?« über Rassismus in ihrer Kindheit im Sammelband Kaltland (Rotbuchverlag 2011), arbeitet als Autorin, Moderatorin, Filmjournalistin, ist Mitglied bei korientation – Netzwerk für Asiatisch-Deutsche Perspektiven und des Kuratoriums im Haus für Demokratie und Menschenrechte.
Thao Nguyen hat Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Seit 2018 ist sie im Vorstand von korientation – Netzwerk für Asiatisch-Deutsche Perspektiven und Mitarbeiterin bei den neuen deutschen organisationen. Sie ist außerdem seit vielen Jahren in intersektionalen antirassistischen Zusammenhängen aktiv, u.a. bei dem queeren und postmigrantischen Bildungsformat erklär mir mal sowie bei der Kampagne Death in Custody, die zu Toden von Menschen of Color in Gewahrsam arbeitet.
Toản Quốc Nguyễn, Diplom-Pädagoge, Jahrgang 1978, lebt in Berlin und ist als Freiberufler tätig. Er berät und begleitet Teams und Organisationen für strukturelle Veränderungsprozesse – insbesondere auf der Basis von Diversitäts- und Antidiskriminierungsaspekten. Ferner ist er als politischer Bildungsreferent zu den Themen Empowerment und (kritischen) Diversity tätig. Sofern es seine Kapazitäten erlauben, engagiert er sich in BPoC und asiatisch-deutschen Community-Kontexten.
Trần Thị Thu Trang ist Sozial- und Kulturanthropologin und freischaffende Dramaturgin. Seit 2013 ist sie Teil des Berlin Asian Film Network, einer Plattform für asiatisch diasporische Film- und Kunstschaffende. Seit 2017 ist sie Vorstandsmitglied im Migrationsrat Berlin. Seit 2020 ist sie Gründungsmitglied des Vereins Connected Differences, der sich aus intersektionaler und feministischer Perspektive für marginalisierte FLINT in Medien, Kunst und Kultur engagiert.